Frankreich und die soziale und solidarische Wirtschaft
Der derzeit vom französischen Parlament geprüfte Gesetzesentwurf zur Sozial- und Solidarwirtschaft wirft ein Schlaglicht auf einen Sektor, der heute erhebliches Gewicht hat und glaubwürdige Antworten auf die vomtraditionellen Wirtschaftskreislauf aufgeworfenen Fragen bietet.
Die Sozial- und Solidarwirtschaft setzt sich aus einer Vielzahl diversifizierter Organismen: man findet dort Verbände, Vereine auf Gegenseitigkeit (mutuelles), Genossenschaften, Stiftungen, Strukturen für die Wiedereingliederung… Der Sektor unterscheidet sich allerdings vor allem durch seine Funktionsmodi: Gemeinsames Management und Governance; Zweckbindung der Gewinne im Namen sozialorientierter Ziele; von Solidarität und Zusammenarbeit geprägte Unternehmensziele; keine Spekulation im Zusammenhang mit den Gesellschaftsanteilen.
Einige Zahlen zur Sozial- und Solidarwirtschaft in Frankreich:
– 200 000 Unternehmen – zwei Millionen Mitarbeiter – 10 % des BIP |
Die ersten Konzeptionen und Ansätze der Sozial- und Solidarwirtschaft entstanden im 19. Jahrhundert und blieben bis in die 60er-Jahre der Tradition der assoziativen sozialen Ökonomie verhaftet. In den 70er-Jahren änderte sich dies dann im Kielwasser des erklärten Willens, Ungleichheiten bekämpfen und sich für den Umweltschutz einsetzen zu wollen. Im Zuge des damit einsetzenden Paradigmenwandels bereicherte sich die Struktur um die Entwicklung von „solidarischen“ Aktivitäten für verletzliche Bevölkerungsgruppen sowie für vernachlässigte und strukturschwache Regionen.
Die Sozial- und Solidarwirtschaft war lange Zeit ein unbekanntes Wesen, wurde marginalisiert, karikaturiert und war als generöse und naive Utopie verschrien. Heute tritt diese alte Idee mit neuer Kraft auf die Bühne! Grund für diese neue Wiederanerkennung: Man kann die Breite, die sie gewonnen hat,heute nicht mehr ignorieren. Denn eine Utopie, die realisiertwird, ist eher selten…
Man hatte gedacht, dass die Sozial- und Solidarwirtschaft altmodisch war – doch zeigt sich heute, dass sie innovativ ist. Dies gilt z.B. für die Genossenschaft Repic aus Montpellier. Dieses Unternehmen geht wie folgt vor: es arbeitet zuerst Projekte aus und sucht dann die geeigneten Geschäftsführer für deren Umsetzung. Man dachte ebenfalls, dass die Sozial- und Solidarwirtschaft keine ehrgeizigen Ziele verfolgt,die Zahlen zeigen jedoch, dass es in diesem Sektor auch Großunternehmen gibt: Vitamine T in Lille (3 000 Mitarbeiter); die Gruppe SOS (10 000 Mitarbeiter); der Crédit Coopératif (2 000 Mitarbeiter); der Geschäftspol Sud-Archer in der Drôme (Südost-Frankreich) (1 200 Mitarbeiter)… In Frankreich beschäftigen 200 000 in der Sozial- und Solidarwirtschaft engagierte Unternehmen über zwei Millionen Mitarbeiter, d.h. ein privatwirtschaftlicher Beschäftigungsplatz von insgesamt acht. Der Bereich erwirtschaftet etwa 10 % des BIP. In den letzten zehn Jahren hat die soziale und solidarische Wirtschaft insgesamt 440 000 neue Arbeitsplätze geschaffen; eine Wachstumsrate von 23 % – gegenüber 7 % in der traditionellen Wirtschaft!
Die Dynamik der Sozial- und Solidarwirtschaft ist weltweit zu beobachten und dürfte Schätzungen zufolge zur Erwirtschaftung von etwa 5 – 10% des weltweiten BIPbeitragen. Auf internationaler Ebene organisierte das internationale Netzwerk zur Förderung der Sozialökonomie vor kurzem den 5. Solidarischen Ökonomie Kongress in Manila, Philippinen. In Frankreich nehmen an dem internationalen Forum von Führungskräften der Economie Sociale „Rencontres du Mont-Blanc“Vertreter aus über 40 Ländern teil. Der unter dem Vorsitz des französischen Entwicklungsministersorganisierte Kongress für Entwicklung und internationale Solidarität (Assises du développement et de la solidarité internationale) leitete seinerseits einen breiten Dialog zwischen den Akteuren des Sektors und der öffentlichen Hand ein.
Die Tatsache, dass die Sozial- und Solidarwirtschaft nunmehr ein solches Interesse auslöst, liegt auch an den von den Aktionen des Sektors getragenen Ideen, die von der Bevölkerung positiv aufgenommen werden. „Der Sektor bietet konkrete Antworten auf aktuelle Themen wie soziale Gerechtigkeit, Ungleichheiten, Umwelt, Ressourcenschonung,“ erklärt der Soziologe und Volkswirt Jean-Louis Laville, Leiter eines Forschungslabors des CNRS. „Man erkennt heute an, dass die Sozial- und Solidarwirtschaft auf die Bedürfnisse der Bevölkerungen und der Regionen eingeht.“
Wird damit das Ende der Domination des Paares Staat-Markt in der Wirtschaftsdebatte eingeläutet? Eins ist sicher: die Zivilgesellschaftfindet besser Berücksichtigung.In Frankreich lautet das Ziel des künftigen Gesetzes darin, die Entwicklung der sozialen Wirtschaft zu begleiten, insbesondere durch einen leichteren Zugang zu Finanzierungen. Im Übrigen sieht die Öffentliche Investitionsbank (BPI – Banque publique d’investissement) hierin ebenfalls einen„strategischen Zukunftssektor“ und wird ihm 500 Millionen Euro Kredite zur Verfügung stellen.
Quelle : Sylvie Thomas,
PRESSEREFERAT ABTEILUNG PRESSE UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT – Ministerium für Forschung und neue Technologien