Humane embryonale Stammzellen und Bioethikgesetz
Forschern des INSERM (ISTEM- UEVE U861/AFM) [1] ist es erstmals gelungen, mit Hilfe humaner embryonaler Stammzellen (hES) aus der Präimplantationsdiagnostik (PID), die Mechanismen der Erbkrankheit myotone Dystrophie Typ 1 – DM1 – [2] zu bestimmen. Das Team arbeitet am Stammzellen-Institut zur Behandlung und Erforschung monogenetischer Krankheiten (I-Stem) [3]. Diese Ergebnisse wurden am 31. März 2011 in der internationalen Fachzeitschrift Cell Stem Cell veröffentlicht [4]. Die Studie wurde durch den Téléthon [5] gefördert.
Die Mutation DM1 führt zu einem anormalen Wachstum der Nervenzellen-Fortsätze (links:
Kontrollneuronen; rechts: erkrankte Neuronen)
© Cécile Martinat/Inserm
Die myotone Dystrophie ist die häufigste Form der Muskeldystrophie (Muskelschwund) bei Erwachsenen. Ihre Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) wird auf 1/8000 geschätzt, das heißt 7000 bis 8000 Betroffene in Frankreich. Sie äußert sich in einer ungewöhnlich langsamen Muskelentspannung, die alle Bewegungen durcheinanderbringt. Weitere Symptome sind Herzrhythmusstörungen, Hornhauttrübungen, multiple endokrine Anomalien, kognitive und Schlafstörungen, usw. Bis heute gibt es kein Heilmittel dagegen.
Für ein besseres Verständnis dieser Erkrankung, nutzten die Forscher Zellen, die die Mutationen bereits in ihrem Genom trugen. Bislang konnten die Wissenschaftler dabei nur auf zwei Zelltypen zurückgreifen: die den Patienten entnommenen und die durch genetische Veränderung im Labor gezüchteten. Jedoch ist es schwierig, den Patienten genau die Zellen zu entnehmen, die für die Untersuchung benötigt werden (z.B. Neuronen oder kardiale Zellen), und es ist häufig nicht möglich, die aus genetisch veränderten Zellen erhaltenen Ergebnisse zu interpretieren, da sie nicht alle physiologischen Eigenschaften aufweisen. Humane embryonale Stammzellen lösen beide Probleme: Sie sind physiologisch perfekt, können sich unendlich oft teilen und zu allen Zelltypen ausdifferenziern, und bei der PID können die Stammzellen mit einer Genommutation direkt entnommen werden.
Die Forscher des I-Stem haben an humanen embryonalen Stammzelllinien geforscht, die die für die myotone Dystrophie DM 1 verantwortliche Mutation enthalten, um die Mechanismen der Erbkrankheit erkennen und verstehen zu können. Dank der Fähigkeit dieser Zellen sich in alle Zelltypen zu differenzieren, gelang es den Forschern, erkrankte Motoneuronen zu züchten. Das Team um Cécile Martinat und Marc Peschanski untersuchte die Auswirkungen der Mutation auf die Bildung von Neuro-Muskelverbindungen. Durch Vergleichsuntersuchungen zwischen Zellen von erkrankten und Zellen von gesunden Embryonen kamen sie zu dem Ergebnis, dass es in Folge der Erbkrankheit zu einem starken Wachstum der Nervenzellen-Fortsätze und gleichzeitig, paradoxerweise, zu einer drastischen Verringerung der Anzahl an Synapsenverbindungen kommt und somit zu einer reduzierten Weitergabe von Informationen an die Muskeln. Auf molekularer Ebene konnten die Forscher zwei Gene der gleichen Familie bestimmen: die SLITRK 2 und 4, deren Expression durch die Erkrankung sehr gering ist. Sie konnten ebenfalls einen direkten Zusammenhang zwischen molekularen und neuromuskulären Anomalien nachweisen.
Die Forscher des I-Stem wollen nun mit Hilfe der von der myotonen Dystrophie DM1 betroffenen Zellen neue Medikamente gegen die Krankheit entwickeln.
Diese Arbeiten eröffnen auch viele Möglichkeiten für die Behandlung anderer Erbkrankheiten. Dutzende Zelllinien von erkrankten Embryonen stehen in den Zellbanken der Laboratorien zur Verfügung. Die Teams von I-Stem haben bereits begonnen, sich mit der Huntington-Krankheit und der Neurofibromatose Typ 1 zu beschäftigen.
Bioethikgesetz
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird in Frankreich das Bioethikgesetz überarbeitet. Die Nationalversammlung hat am 8. April 2011 den Projektentwurf zur Bioethik in erster Lesung angenommen, wodurch sie, entgegen der Meinung der Regierung, die Forschung an humanen Embryonen und hES zulässt. Die Regierung kündigte jedoch an, dass sie auf zwei der angenommenen Maßnahmen zurückkommen wird: auf die Genehmigung der Forschung an Embryonen und auf die künstliche Befruchtung für alle Paare.
[1] INSERM – Französisches Institut für Gesundheit und medizinische Forschung
[2] Weitere Informationen zur myotonen Dystrophie DM1 (Morbus Curschmann-Steinert) auf Wikipedia unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Myotone_Dystrophie
[3] Das I-Stem widmet sich ganz der Erforschung des therapeutischen Potenzials embryonaler und adulter Stammzellen zur Behandlung seltener genetischer Krankheiten. Weitere Informationen unter: http://www.istem.eu/ewb_pages/e/english.php
[4] Originalpublikation: “Mutant Human Embryonic Stem Cells Reveal Neurite and Synapse Formation Defects in Type 1 Myotonic Dystrophy”, Cell Stem Cell – 31.03.2011 – http://www.cell.com/cell-stem-cell/abstract/S1934-5909%2811%2900055-5
[5] Webseite des Téléthon (auf Französisch): http://www.afm-telethon.fr/
Während des Téléthon werden unzählige kleine und große Veranstaltungen im ganzen Land organisiert, die über 30 Stunden vom französischen Fernsehen begleitet werden. Das Ziel des Téléthon ist es, das breite Publikum für Erbkrankheiten zu sensibilisieren und Spenden zu sammeln, um die Forschung zu diesen Pathologien zu unterstützen.
Kontakte:
– Marc Peschanski – Tel: +33 (0)1 69 90 85 17 – E-Mail: mpeschanski@istem.fr
– Cécile Martinat – Tel: +33 (0)1 69 90 85 33 – E-Mail: cmartinat@istem.fr
Quellen:
– Pressemitteilung des Inserm – 31.03.2011
– Pressemitteilung der AFP – 08.03.2011
Redakteurin:
Claire Cécillon, claire.cecillon@diplomatie.gouv.fr