Aktueller Stand zur Epidemie in Frankreich: Wie kann die durch das Coronavirus verursachte Epidemie überwunden werden oder wird sie andauern?

Vier Wochen nach dem der Lockdown in Frankreich aufgehoben wurde, scheint die Covid-19-Epidemie weiter zurückzugehen. Der französische wissenschaftliche Rat schließt jedoch das Szenario eines „Kontrollverlustes“ über die Epidemie nicht aus.

Laut Samuel Alizon, Forscher am CNRS, folgt eine Epidemie „den Gesetzen der Physik“. Steigt die durchschnittliche Anzahl von Sekundärinfektionen über 1 (eine Person infiziert im Durchschnitt mehr als eine weitere Person), beginnt die Epidemie erneut. Am 4. Juni lag die wöchentlich vom französischen Gesundheitswesen geschätzte Reproduktionszahl bei 0,76. Um vorhersagen zu können, welches Szenario am ehesten zutreffen wird, muss man die Faktoren kennen, die die durchschnittliche Zahl der Neuinfektionen in die eine oder andere Richtung beeinflussen und die verschiedenen Parameter prüfen:

Vorsichtsmaßnahmen

„Wir empfehlen das Tragen von Masken in öffentlichen und engen Räumen (Verkehrsmittel, Geschäfte), aber auch in überfüllten Straßen. Die Maske schützt uns und andere“, erinnerte Jean-François Delfraissy, Präsident des wissenschaftlichen Rates, am 7. Juni im Journal du dimanche.

Die Sommerzeit

Üblicherweise verbreiten sich Viren, die die Atemwege angreifen, in den gemäßigten Zonen der nördlichen Hemisphäre von September bis Ende April.

Erste Hypothese: SARS-CoV-2 ähnelt seinem nächsten Verwandten (SARS-CoV von 2003) und verschwindet nach der ersten Welle.

Zweite Hypothese: SARS-CoV-2 ähnelt den vier bereits bekannten menschlichen Coronaviren und wird ein jahreszeitbedingtes Problem. Forscher der Harvard-Universität prognostizieren epidemische Spitzenwerte bei Covid-19 in denselben Herbst- und Wintermonaten. Das derzeitige Verschwinden ist also möglicherweise nicht von Dauer.

Das Virus verändert sich

Für Virologen bleibt SARS-CoV-2 ein Rätsel: Da Coronaviren dafür bekannt sind, dass sie sich leicht neu kombinieren, könnte es sein, dass es sich abschwächt oder mutiert. „Dieses Genom mutiert wenig, zehnmal weniger als bei HIV und zwei-drei Mal weniger als bei der Grippe“, sagt Olivier Gascuel, Forschungsdirektor am CNRS und am Institut Pasteur.

Kreuzimmunität

In den einfachsten Modellen, die den Verlauf einer Epidemie beschreiben, beginnt der Rückgang, wenn die Zahl der Infizierten eine Schwelle erreicht, die als „Herdenimmunität“ bezeichnet wird. In seiner Stellungnahme Nr. 7 vom 2. Juni geht der wissenschaftliche Rat davon aus, „dass sich 3 bis 7 % der französischen Bevölkerung während der ersten Welle mit SARS-CoV-2 infiziert haben“. Wir sind also weit von den Schwellenwerten für die Herdenimmunität entfernt.

Ein noch unbestimmter Teil der Bevölkerung könnte zudem, zumindest teilweise, vor SARS-CoV-2 geschützt sein. Mehrere Veröffentlichungen haben gezeigt, dass es eine Kreuzimmunität bei Menschen gibt, die sich 2003 mit SARS-CoV angesteckt haben. Es gab jedoch deutlich weniger Infizierte: etwa 8.000 Menschen weltweit.

Individuelle Anfälligkeit unterschätzt

Die Schwellenwerte für die Herdenimmunität sind möglicherweise nicht so hoch, wie theoretisch vorhergesagt. Die Theorie ist nicht falsch, berücksichtigt jedoch nicht alle Fakten. So geht sie davon aus, dass jeder Mensch sich mit der gleichen Wahrscheinlichkeit infiziert, und lässt dabei individuelle Prädispositionen (die sehr unterschiedlich sein können) außen vor.

Die Rolle der „Superspreader“

Auch hier gibt es große Unterschiede, was die durch Personen oder Situationen hervorgerufene Zahl von Neuinfizierten angeht. 80% der Infizierten könnten sich bei nur 20% bereits infizierten Menschen anstecken, die oft als „Superspreader“ (Superverbreiter) bezeichnet werden. Umgekehrt bedeutet diese Regel aber auch, dass viele Menschen die Krankheit nicht übertragen.

Das Interesse an einer Strategie im Bereich der öffentlichen Gesundheit liegt also auf der Hand, da es effizienter ist, sich auf die am stärksten gefährdeten oder infektiösen Bevölkerungsgruppen statt auf die gesamte Bevölkerung zu konzentrieren, wie es beim Lockdown der Fall wäre. Zu erforschen bleibt zudem, wie es zu diesen individuellen Unterschieden kommt. Liegt es am Träger des Virus selbst oder an den ihn umgebenden Bedingungen (Bevölkerungsdichte, geschlossene Räume, Temperatur/Feuchtigkeit, etc.)?

All diese Faktoren könnten bei der Erklärung des derzeitigen Rückgangs der Epidemie eine Rolle spielen.

Quelle: aus ein Artikel von Le Monde vom 9. Juni 2020, Redakteure David Larousserie, Pascale Santi, Paul Benkimoun, Nathaniel Herzberg und Chloé Hecketsweiler)